Ludwig Oechslin ist wohl eine der schillerndsten Personen der Uhrenbranche. Aber nicht durch Glamour, sondern durch seine genialen Erfindungen macht er seit Jahrzehnten von sich reden. Wir haben an dieser Stelle schon mehrere seiner grossen Würfe präsentiert. Seit einer Weile hat er auch – mit Partnern – eine eigene Uhrenfirma.

Ludwig Oechslin ist das, was man früher als «Universalgenie» bezeichnet hätte. Sein Werdegang ist entsprechend vielseitig. Der 1952 in Italien geborene Oechslin absolvierte an der Universität Basel seine Studien in Altertumswissenschaften und promovierte 1983. Parallel dazu machte er bei Meister Spöring in Luzern eine Lehre als Uhrmacher und einen Abschluss als Uhrmachermeister. Er ist aber auch Doktor der theoretischen Physik und Restaurator. Und studierte die griechische Sprache. Grosse Erfahrungen sammelte er, als er im Vatikan die Farnesianische Uhr restaurierte, eine monumental komplexe astronomische Pendeluhr aus dem 17. Jahrhundert. Vier Jahre dauerte es, die über 1000 Einzelteile zu restaurieren und wieder zu einem funktionierenden Ganzen zusammenzusetzen. Die Restauration wurde in einem dreibändigen Werk akribisch dokumentiert.

Universalgenie Oechslin – portraitiert von Sjoerd van Rooijen

Lange Jahre entwarf und entwickelte er für Ulysse Nardin bahnbrechende Uhren, unter anderem die «Trilogie der Zeit» mit den faszinierenden atronomischen Uhren «Astrolabium Gallileo Galilei», «Planetarium Copernicus» und «Tellurium Johannes Kepler», den «Freak», den Ewigen Kalender «Ludovico Pertetual», gefolgt von der «Moonstruck» und der «Planet Earth». Der Umfang des Werks ist beeindruckend. Seit 2003 leitet Oechslin das Musée International de l’Horlogerie (MIH) in La Chaux-de-Fonds. Dies mit noch bis zu seiner geplanten Pensionierung einem 60-Prozent-Pensum, denn nebenher ist Oechslin Forscher, Konstrukteur und Uhrmacher geblieben. Ständig sinniert er an neuen Konstruktionen und Lösungen herum, sein innerer Daniel Düsentrieb hält ihn pausenlos auf Trab.

Initialzündung mit MIH-Uhr

Vor Jahren lernte Oechslin im Uhrengeschäft Embassy in Luzern Beat Weinmann kennen. Embassy in Luzern ist ein Treffpunkt für Uhrenkenner – ähnlich wie Uhrsachen, nur einfach einige Nummern grösser ind internationaler. Aus der Bekanntschaft entstand das Projekt einer MIH-Uhr. Oechslin hegte schon lange den Wunsch, eine möglichst einfache Uhr zu konzipieren. Als Dritten im Bunde konnten sie den bekannten Uhrmacher Paul Gerber gewinnen, seinerseits Gründungsmitglied der AHCI (Académie Horlogère des Créateurs  Indépendants). Er baut Uhren, die er unter seinem Namen verkauft, ist aber auch Entwickler von Zusatzfunktionen für renommierte Uhrenmarken. Discrétion oblige – darum nennen wir hier keine Namen. Gerber brachte Oechslins Idee einer einfach zu bauenden Jahreskalenderfunktion zur Serienreife und produziert sie nun mit seinen Mitarbeitern. Die MIH-Uhr ist extrem reduziert, verfügt aber über eine sehr schlaue Jahreskalenderfunktion mit Wochentags-, Monats- und Datumsanzeige.

Die Anno Tinta mit Jahreskalenderfunktion

Im Gegensatz zum Ewigen Kalender kennt der Jahreskalender die Schaltjahre und die damit verbundene unterschiedliche Anzahl Tage im Februar nicht. Eingebaut ist hingegen der Unterschied der Monatslängen der normalen Jahre. Der Clou an Oechslins Idee: Diese ausgeklügelte Mechanik benötigt nur 9 (neun!) bewegliche Teile, anstelle von 30-40 bei herkömmlichen Lösungen. Als Basiswerk dient das aus vielen Chronographen bekannte Valjoux 7750, das vor dem Umbau mal reichlich abgespeckt wird. Die MIH-Uhr wird nur im Museum selber sowie bei Embassy verkauft. Ein Teil ihres Erlöses fliesst direkt ans Museum zurück, und zwar zweckgebunden in eine Kasse, aus der die Restaurierung einer aussergewöhnlichen Monumentaluhr des bretonischen Uhrmachers Daniel Vachey, die über eine Unzahl von astronomischen Komplikationen verfügt.

Die Zusammenarbeit bei der Kreation und Lancierung der MIH-Uhr machte aus Weinmann und Oechslin ein verschworenes Team. In vielen Kreativspaziergängen stellten die beiden ein weiteres Projekt namens Ochs und Junior auf die Beine. Sie gewannen mehrere Freunde für ihr lose zusammengestelltes Team, das 2009 begann, kompromisslose Uhren in kleinen Serien zu bauen.

Abseits der ausgetretenen Pfade

Die eingeschlagenen Wege sind neu. Traditionelle Uhrenzulieferer findet man nur wenige im Umfeld von Ochs und Junior. Einer der wichtigesten Lieferanten kommt aus einer ganz anderen Branche. Es ist Peter «Pedro» Cantieni, Inhaber einer Werkstätte für Präzisionsmechanik im zürcherischen Hinwil, einen Steinwurf von der Formel-1-Manufaktur von Peter Sauber entfernt, für die er regelmässig High-Tech-Teile herstellt. Was für Hochleistungsrennwagen gut ist, sollte auch für Armbanduhren taugen. Er baut die Gehäuse, die Schliessen, die Zifferblätter und die Zeiger sowie die speziellen Technikkomponenten für die Ochs-Uhren. Cantieni ist mit Herz und Seele dabei.

Ludwig Oechslin und Beat Weinmann

Basis aller Uhren bilden die teilweise sehr unkonventionellen Ideen Oechslins. Seine jahrzehntelange intensive Auseinandersetzung mit Mechaniken und astronomischen Gesetzmässigkeiten machen aus ihm unbestritten einen der grössten Experten auf diesem Gebiet. Die ersten Uhren unter dem neuen «Brand»  (dazu später mehr)  waren zwei in vieler Hinsicht aussergewöhnliche Stücke. Da war einerseits die settimana junior, eine «kleine Ochsenuhr» wie die Macher sie nennen. Die frische, bunte Uhr im Titangehäuse mit kleinem Durchmesser zeigt die Uhrzeit an, sowie die Wochentage mit sieben Punkten. Hintergrund ist der vom dreifachen Vater Oechslin erkannte und umgesetzte Zeithorizont eines Kindes, der sich vor allem in der Zeiteinheit der Woche abspielt. Montag Schule, Mittwochnachmittag frei, Sonntags Brunch en famille.

Die Selena Tinta mit Mondphasenanzeige

Schon viel komplexer war die anno cinquanta. Sie besitzt – wie die MIH-Uhr – einen Jahreskalender, der die Monate, den Wochentag und das Datum anzeigt. Und all dies in Form von intuitiv ablesbaren Punkten. Die technische Umsetzung geschieht wieder mit der wohl kleinst möglichen Anzahl von Teilen. Diese Uhr war nur in Gehäusen aus Edelmetallen zu haben, also Rotgold, Weissgold und – aussergewöhnlich – Silber. Die Erklärung für das Silbergehäuse ist eine einfache: Gehäusehersteller Cantieni hatte wenig Erfahrung im Verarbeiten von Edelmetallen. Da war Silber, weil günstiger, naheliegend für Versuche. Und schliesslich gefielen die Gehäuse so gut, dass man davon eine kleine Serie herstellt. Oechslin selber trägt die Uhr in Silber – «Gold kann ich mir nicht leisten» ist sein schlichter Kommentar dazu.

Bewusst minimal

Die Gehäuse der Ochs-Uhren sind generell relativ roh belassen. Auf aufwändiges Polieren wird bewusst verzichtet. «Unsere Uhren sollen leben. Das Tragen sorgt für die Politur, mit der Zeit» sagt Purist Oechslin. «Kratzer stören mich nicht – schliesslich steckt hinter jedem eine Geschichte.» Das Zifferblatt der anno cinquanta ist aus Weissgold und wird von Oechslin höchstselbst gefräst und patiniert. Seine Farbe erhält es durch eine thermische Behandlung, Weissgold verfärbt sich mit Hitze. Sie hat ein Werk von Paul Gerber und wird nur in sehr kleinen Stückzahlen hergestellt. Es ist schlicht, vom Feinsten, handgearbeitet. Entsprechend sind die Preise – in Weissgold beispielsweise kostet die Uhr knapp 45000 Franken.

Exklusive Prototypen

«Ich bin Prototypist!» erkärte mir Oechslin einmal, als er mir im Keller seiner alten Villa in La Chaux-de-Fonds seine CNC-Fräse zeigte. Eine solche High-Tech-Maschine hätte man dort nicht erwartet. Und in der Tat: In Oechslins Kopf wachsen clevere Uhrenkonzepte heran, die er anschliessend eigenhändig in Prototypen verwandelt. Mit viel Fleiss und Können und bewundernswerter Ausdauer. In der «Idea»-Kollektion von Ochs und Junior gelangten wenige solcher Konzeptträger in den Verkauf, angeboten wurden sie Freunden des Hauses. Exklusivität garantiert. Drei Modelle gab es bis jetzt: Die due ore idea mit ihrer simplen Anzeige von zwei Zeitzonen, die mese idea mit einer schlauen Kalenderfunktion und die luna mese idea mit einer sehr poetischen und gleichzeitig extrem präzisen Mondphasenanzeige.

Konzentration auf serielle Unikate

Die tinta-Serie schliesslich ist die zugänglichste Kollektion, die ochs und junior bis jetzt präsentiert haben. Auf sie wird sich die Firma jetzt voll konzentrieren. Sie basieren auf den Prototypen der «idea»-Linie, bringen aber noch ein ganz neues zusätzliches Element ins Spiel. Tinta steht für Färbung, und Farben sind Ausdruck von Individualität. So hat der Kunde die Wahl aus jeder Farbe der Pantone-Farbskala. Die Zeiger und die Indexe gibt’s in einer passenden Auswahl von 10 verschiedenen nachleuchtenden Superluminova-Farben. Und auch die Bänder können in allerhand Farben geordert werden. Um die Wahl nicht allzu schwer zu machen, gibt es auf der Website von Ochs und Junior fertig konfigurierte Farbvorschläge. «Im Luxusbereich ist heute Individualität ein grosser Trumpf. Als Kleinstfirma können wir unseren Kunden genau das anbieten mit unserem Farbsystem und uns auch so von den grossen Mainstreamfirmen unterscheiden» erklärt Beat Weinmann. Üben kann man darum schon zuhause: Auf der Website stellt Ochs und Junior ein PDF-Dokument mit einer Zeichnung der Uhr zur Verfügung, die man – wie beim guten alten Kindermalheft – ausfärbt und sich dann ausgeschnitten 1:1 aufs Handgelenk legen kann. Ob vor allem an Montagen nach regnerischen Sonntagen Bestellungen in Luzern eintreffen, wollte uns Beat Weinmann nicht bestätigen.

Spezielle Mondphase

Das Tinta-Konzept gelangt bei drei Grunduhren zur Anwendung. Due ore heisst wieder das Zeitzonenmodell, Mese das mit Datumsanzeige und Selene das Flaggschiff mit Datum und sehr spezieller Mondphase. Diese wollen wir uns ein wenig näher ansehen. Oechslins astronomische Kenntnisse und sein unerhört grosses Abstraktionsvermögen erlaubten es ihm, aus lediglich fünf Teilen den genausten Mondphasen-Mechanismus einer Armbanduhr herzustellen. Ganze 3478.27 Jahre würde es theoretisch dauern, bis man eine Korrektur machen müsste. Die Service-Intervalle einer mechanischen Uhr sowie die durchschnittliche Lebensdauer eines Menschen sorgen allerdings dafür, dass das theoretisch bleiben wird. Der Preis ist mit CHF 8000.- mehr als angemessen. Für eine an Individualität kaum zu überbietende Uhr mit einem «echten Oechslin» an Bord.

Auch bei den Bändern nicht normal

Natürlich kann man an eine Uhr von Ochs und Junior nicht einfach ein schnödes Standardband montieren. Die Bänder werden aus Leder der Firma Ecopell im Allgäu gefertigt. Leder aus Häuten von glücklichen Rindern, ökologisch korrekt behandelt mit natürlichen Gerbmitteln. Und auf die Bänder kommt auch das einzig sichtbare Etikett, das «Branding». Augenzwinkernd, natürlich. Das Logo von Ochs und Junior wird nämlich wörtlich eingebrannt, mit einem vorgeheizten Eisen, so wie früher die Rinder gebrandmarkt wurden.

Weinmann hat unterdessen – nach 16 Jahren – seine Tätigkeit bei Embassy aufgegeben und widmet sich voll und ganz Ochs und Junior. Und auch die Besitzverhältnisse der Firma wurden neu geregelt. Sie gehört jetzt je zu einem Drittel Oechslin, Weinmann und, nur auf den ersten Blick erstaunlich, Ulysse Nardin. Oechslin und Ulysse Nardin sind seit vielen Jahren eng und quasi symbiotisch miteinander verbunden, seine Konstruktionen verhalfen Ulysse Nardin zu Ruhm und Erfolg – und umgekehrt (siehe auch Seiten 26-28). Es ist davon auszugehen, dass bei Ochs und junior in naher Zukunft das neue Basiswerk UN-118 als Antrieb zum Einsatz kommt.

Espresso-Kult im «Flagshipstore»

Hauptquartier ist ein Lokal an der nicht eben mondänen Zürichstrasse in Luzern. Und natürlich ist es alles andere als branchenüblich. Es ist Showroom, Arbeitsloft, Ladenlokal und Denkfabrik in einem. Ausgestattet mit einer Küche, die gekrönt wird von einer gigantischen Kaffeemaschine mit einer Geschichte, deren Erzählung hier den Rahmen sprengen würde. «Klare Gedanken erfordern ein klares Hirn. Eine der legalen Drogen, mit der das erreicht werden kann, ist Espresso», sagt Weinmann schmunzelnd. Der Espresso geniesst bei Ochs und Junior Kultcharakter. Und glauben Sie uns: einen solchen Espresso kriegen Sie selten. Wenn das Nespresso-Clooney wüsste, würde er vielleicht lieber für Ochs und Junior werben als für Omega.

Beat Weinmann und La Gaggia

Der Empfang im «Ochsenloft» ist ungezwungen, sympathisch und herzlich. Nichts von Uhrenladendünkel. In einer Ecke hat sich Weinmanns Frau Bea ihr Fotostudio eingerichtet. Und neben Uhren sind auch einzigartige Artikel von «Freunden des Hauses» zu kaufen, wie handgemachte Skateboards, die Qlocktwo, der Ochsenkaffee «Black & Blaze», die sagenhaft bequemen «ilmia»-Wunderschuhe, Taschen und schräge Fahrräder. Für Kreativsitzungen und uhrige Freundesabende wird in der Küche auch immer wieder lecker gekocht, Am langen Tisch wird so noch viel Ungewöhnliches und Revolutionäres ausgeheckt werden.

Fotos: Bea Weinmann